Gender im Alltag des Justizvollzugs: zwischen Trennung und Fragezeichen
Nora Affolter, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Analyse und Praxisentwicklung des SKJV
Marc Wittwer, Wissenschaftlicher Mitarbeiter Analyse und Praxisentwicklung des SKJV
Die Entwicklung hin zu einer Genderperspektive macht auch vor den Mauern des Justizvollzugs nicht Halt. In der Fachwelt wird den differenzierten Bedürfnissen der Geschlechter und der Geschlechtergerechtigkeit zunehmend Bedeutung zugemessen. Der vorliegende Artikel gibt Denkanstösse zu dieser aktuellen Thematik.
Neue Grundlagenwerke zu Gender im Justizvollzug
Gesellschaftspolitische Entwicklungen wie die Forderung nach mehr Gleichbehandlung zwischen den Geschlechtern beschäftigen auch den Justizvollzug. Geschlechtsspezifische Aspekte müssen über die gesamte Strafrechtskette mitberücksichtigt werden. Dazu gehört sowohl die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Bedürfnisse (gendersensibler Ansatz) als auch die Förderung der Geschlechtergerechtigkeit (gendertransformativer Ansatz). Die Autor:innen zweier Publikationen haben dies getan und damit neue Grundlagenwerke für Praxisorganisationen und politische Entscheidungsträger:innen geschaffen.
- Eine niederländische Publikation im Rahmen des nationalen Programms zur Qualität in der forensischen Pflege: Sie liefert Leitlinien für den Umgang mit Frauen in der forensisch-psychiatrischen Versorgung.
- Ein Handbuch mit dem Titel «Implementing a gender approach in drug policies» der «Groupe Pompidou» des Europarats (Fachgruppe), das Impulse für eine Genderperspektive im Umgang mit drogendelinquenten Personen liefert.
Basierend auf diesen beiden Publikationen soll aufgezeigt werden, was eine Genderperspektive im Justizvollzug ausmacht und zu welchen neuen Impulsen für den Umgang mit drogendelinquenten Frauen diese führen kann.
Frauenspezifische soziale und ökonomische Risiken
Gesetzliche Vorgaben für den Justizvollzug nehmen heute schon Bezug auf das Geschlecht. So ist etwa den geschlechtsspezifischen Anliegen und Bedürfnissen der Gefangenen gemäss Art. 75 Abs 5 StGB Rechnung zu tragen. Auch die Vorschrift, dass Leibesvisitationen von einer Person desselben Geschlechts vorgenommen werden müssen, ist verankert (Art. 85.2 StGB). Eine strikte räumliche Trennung zwischen Männern und Frauen im Freiheitsentzug ist seit 2007 nicht mehr explizit formuliert, Frauen werden jedoch weiterhin getrennt von den Männern inhaftiert. Das Strafgesetzbuch zählt sie zu den Gefangenengruppen, für welche die Kantone eigene Abteilungen führen können (Art. 377 Abs. 2a StGB).
Diese rein räumliche oder prozessuale Berücksichtigung des Geschlechts greift laut der Autor:innenschaft der beiden Handbücher zu kurz. Ein gendersensibler Ansatz muss berücksichtigen, dass Frauen aus anderen Gründen als Männer mit dem Gesetz in Konflikt geraten und in den Justizvollzug gelangen. Ihre Reintegration ist durch andere Herausforderungen geprägt als diejenige der Männer. Frauenspezifische Aspekte müssen deshalb sowohl in der therapeutisch-betreuerischen Arbeit als auch in der Vollzugsplanung berücksichtigt werden.
- Frauen im Justizvollzug sind in ihrer Vergangenheit überproportional oft Opfer von physischer und/oder sexueller Gewalt geworden.
- Sie haben eine hohe Wahrscheinlichkeit, an psychischen Belastungen und psychiatrischen Störungsbildern zu leiden, insbesondere auch Substanzabhängigkeiten zu entwickeln.
- Eine höhere Tendenz, Identität und Selbstwert über Beziehungen zu definieren und die damit einhergehende starke Gefahr, unter dysfunktionalen Beziehungen zu leiden, ist für Frauen typisch.
- Die Wahrscheinlichkeit, dass Frauen im Justizvollzug weiterhin besonders intensive soziale Rollen, so etwa als Bezugspersonen für Kinder, wahrnehmen und diese auch während des Strafvollzugs aufrechterhalten wollen, ist besonders hoch.
- Die Gefahr, dass Frauen auch ökonomisch benachteiligt sind, da sie etwa überproportional oft in prekären Arbeitsverhältnissen arbeiten, ist höher als bei Männern.
Frauenspezifische Forschung bisher vernachlässigt
Der Grossteil der Aufmerksamkeit in der forensisch-psychiatrischen Forschung war in Vergangenheit einseitig auf das männliche Geschlecht ausgerichtet. Die Genauigkeit vieler eingesetzter Instrumente wurde bei Frauen bisher noch unzureichend durch Forschungen bestätigt. Gendersensible (bzw. geschlechtsspezifische) Diagnose- und Risikobewertungsinstrumente sowie Behandlungsprogramme, sind erst am Entstehen. Historisch hat sich die trauma-informierte Praxis als ein geschlechtsspezifischer Ansatz in der Behandlung und Betreuung weiblicher Straffälliger entwickelt. Diese basiert auf den Grundaspekten Sicherheit, Bereitstellung von Wahlmöglichkeiten, einer guten Zusammenarbeit und Vernetzung und der Befähigung der Betroffenen.
Genderspezifische Aspekte bei Drogendelinquentinnen
Am Beispiel der Drogendelinquenz lässt sich exemplarisch aufzeigen, wie ein genderspezifischer Ansatz für die Praxis nutzbar gemacht werden kann. Der Justizvollzug ist in zweierlei Hinsicht mit dem Thema Drogen konfrontiert: Einerseits befinden sich viele Inhaftierte wegen einem Vergehen oder Verbrechen gegen das Betäubungsmittelgesetz in Haft. Andererseits spielt der Drogenkonsum durch delinquente Personen vor, während und nach ihrer Zeit im Straf- und Massnahmenvollzug eine wichtige Rolle.
Von den weltweit inhaftierten Frauen sind gemäss den Zahlen der UN 51% substanzmittelabhängig, bei den Männern sind es 30%. Dies trotz der Tatsache, dass in West- und Mitteleuropa Männer zwei- bis dreimal häufiger Drogen konsumieren als Frauen. Auch in der Schweiz sind die Werte hoch: Im Jahr 2021 haben 44% der Insassinnen der JVA Hindelbank angegeben, substanzmittelabhängig zu sein. Werte aus dem Gefängnis «Tuilière» im Kanton Waadt zeigen, dass 62% aller Frauen, die vor dem Gefängniseintritt Drogen konsumiert haben, ein erhöhtes Risiko für eine Abhängigkeit aufweisen.
Weltweit sind zudem proportional mehr Frauen als Männer wegen Drogendelikten inhaftiert (vgl. Grafik), Tendenz steigend. In der Schweiz wurden gemäss Bundesamt für Statistik 11% der 2022 schweizweit geahndeten Vergehen und Verbrechen aufgrund von Drogenproduktion und 16 % aufgrund von Drogenhandel durch Frauen begangen.
Hintergründe für geschlechtsspezifische Unterschiede in der Drogendelinquenz
Derzeit wird davon ausgegangen, dass ein Zusammenspiel von vielzähligen Faktoren wie Geschlecht, sozioökonomische Vulnerabilität, Gewalterfahrung oder intime Beziehungen dazu führt, dass Frauen mit Drogen in Berührung kommen. Die Forschung bezog sich bisher stärker auf die geschlechtsspezifischen Besonderheiten hinsichtlich des Drogenkonsums und weniger auf die Rolle von Frauen bei drogenbedingten Straftaten. Die Rollen, Aufgaben, Motive und Erfahrungen von drogendelinquenten Frauen sind länderspezifisch sehr verschieden und unterscheiden sich in einigen bereits bekannten Aspekten deutlich von jenen der Männer. Frauen übernehmen im Rahmen der Drogendelinquenz primär marginale und weniger angesehene Rollen (z. B. als Drogenkurierin), die aber nicht selten erhebliche Haftstrafen nach sich ziehen. Wenn Frauen Drogen konsumieren, sind sie deutlich gefährdeter einen regelmässigen Konsum und somit auch eine Abhängigkeit zu entwickeln. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis sind konsumierende Frauen besonders oft mit einem sehr starken, kombinierten Stigma konfrontiert. Einerseits sind sie Straftäterinnen und Abhängige. Andererseits sollten sie Rollen wie etwa die der Fürsorge für Dritte wahrnehmen und – im Falle von Alleinerziehenden – die finanzielle Unabhängigkeit meistern. Die Rückkehr in das soziale und berufliche Leben ist unter diesen Umständen eine immense Herausforderung.
Das gesamte Spektrum geschlechtlicher Identitäten berücksichtigen
Das Beispiel der Drogendelinquenz zeigt, dass die unterschiedlichen Lebenswelten, Bedürfnisse und Erfahrungen verschiedener Geschlechter in der Behandlung und Politik frühzeitig mitgedacht und sichtbar gemacht werden müssen. Das gilt nicht nur für (cis-)Männer und (cis-)Frauen, sondern für das gesamte Spektrum an Geschlechtsidentitäten. So bringt beispielsweise die Durchführung geschlechtergetrennter Leibesvisitationen bei Transpersonen viele Unsicherheiten in der Praxis mit sich. Fest steht: Für ein individuelles Fallverständnis und die Unterstützung einer gelungenen Wiedereingliederung ist der Justizvollzug gefordert, eine Gender-Perspektive einzubringen und anzunehmen.